
„Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele“
- Cicero
Wir alle haben es im Laufe unseres Studiums irgendwann schon einmal gehört oder in Rot neben unseren Übersetungsvorschlägen gelesen: „Das kollokiert nicht“ oder ganz einfach:
„Das sagt man so nicht.“ In 99 % dieser Fälle lautet der Tipp unserer Dozenten: „Ihr müsst einfach mehr lesen. Lesen, lesen, lesen…“
Das Erfassen von geschriebenen Texten mit den Augen und dem Verstand scheint zumindest in unserem Studiengang die universelle Antwort auf all unsere sprachlichen Probleme und Defizite zu sein. Verständlicherweise fragt man sich da, was genau eigentlich dahintersteckt. Cicero hat dazu eine klare Meinung: „Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele.“ Mit anderen Worten: Wer nicht liest, ist seelenlos.
Sei es durch einen Pakt mit dem Teufel, einen Vampirbiss oder den Kuss eines Dämons – die Seele wird in der Literatur häufig als ein Teil von uns dargestellt, der uns genommen werden kann. In ihrer allgemeinen Definition ist die Seele laut dem Duden die Gesamtheit dessen, was das Fühlen, Empfinden und Denken eines Menschen ausmacht. Gerät ein Protagonist also in eine der oben genannten Situationen, werden ihm seine Gefühle, Gedanken und Emotionen genommen; er lebt damit in einer leeren Hülle, fernab jeglicher Menschlichkeit. Ganz so drastisch verhält es sich bei Nicht-Bücherwürmern natürlich nicht. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich allerdings logische Zusammenhänge zwischen echten Leseratten und ihrer Bücherliebe als Seelenbalsam.
Lesen tut einfach gut. Das äußert sich zunächst vor allem in den positiven Auswirkungen auf die Gesundheit. Sich nach einem langen Tag auf die Couch zu legen und in eine ganz andere Welt fernab des eigenen Alltags abzutauchen, reduziert Stress und steigert das Wohlbefinden. Außerdem ist es bewiesen, dass Lesen durch die entspannende Wirkung beim Einschlafen helfen kann – und nein, das ist nicht nur bei langweiligen Schullektüren der kleinen gelben Reclam-Heftchen der Fall. Tatsächlich werden Büchern dieselbe Wirkung wie dem beruhigenden Duft von Lavendel zugeschrieben.
Außerdem ist das Lesen ein echter Hochleistungssport und trainiert unsere grauen Gehirnzellen beinahe auf Olympianiveau. So hat jeder, der die Fantasy-Saga „Das Lied von Eis und Feuer“ von George R. R. Martin gelesen hat, spätestens beim zweiten Band gemerkt, wie sehr man sich eigentlich konzentrieren muss, um die komplexen Handlungsstränge im Kopf zu behalten und die Zusammenhänge zu sehen. Bücher erhöhen durch ihre verzwickten Handlungen unsere Gedächtnisleistung in einem unvorstellbar hohen Maße und vergrößern damit unser Erinnerungsvermögen. Dadurch trainieren wir unterbewusst dauerhaft unsere Gehirnmuskulatur, was letztendlich der beste Weg ist, um einer Altersdemenz vorzubeugen.
Natürlich darf nicht vergessen werden, dass wir beim Lesen unseren Wortschatz erweitern und unsere schriftliche und mündliche Ausdrucksfähigkeit erhöhen, aber das hören wir bis zu unserem Abschluss bestimmt noch oft genug in den Übersetzungsübungen. Widmen wir uns also lieber anderen Aspekten des Lesens: Ein weit verbreitetes Urteil ist, dass Bücherwürmer und Leseratten oftmals schüchterne und introvertierte Einzelgänger sind, die mit Sozialkompetenz nicht viel anfangen können. Kurioserweise ist aber genau das Gegenteil der Fall! Beim Lesen nimmt unser Gehirn den Text als Metahandlung auf und verarbeitet ihn, ähnlich wie bei einem Film, als simulierte Parallelsituation. Der springende Punkt dabei ist, dass wir beim Lesen einem ständigen Perspektivwechsel ausgesetzt sind, der uns das Gelesene buchstäblich parallel miterleben lässt. Die Formulierung „in ein Buch eintauchen“ ist somit ganz schnell überhaupt nicht mehr so abstrakt wie es zunächst scheint, da wir tatsächlich mittendrin sind, ohne es eigentlich zu merken (und das meine ich nicht auf eine so beunruhigende Weise wie in dem Film „Die Truman Show“). Menschen, die viel und gerne lesen, haben eine gewisse Affinität dafür, ihre Perspektive und Denkmuster zu verändern und sich in andere Situationen hineinzudenken. Dadurch ist es nur logisch, dass sie auch eher dazu neigen, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können und somit eine stärker ausgeprägte Empathiefähigkeit besitzen. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass Menschen mit Einfühlungsvermögen und Empathie eine sehr soziale Ader haben. Und für alle, die das noch nicht überzeugt, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe an Studien, die belegen: Lesen macht attraktiv. Belesene Menschen erscheinen intelligent und wortgewandt, wodurch sie direkt charismatischer und anziehender auf ihre Mitmenschen wirken. Bücher bringen unsere wunderschöne Seele also nach außen und machen sie für andere Menschen sichtbar.
Aber was noch viel wichtiger ist: Literatur bringt unsere Seele für uns selbst zum Leuchten, da sie all ihre Aspekte, das Fühlen, das Empfinden und das Denken anspricht und nährt. Mit der unvermeidbaren ständigen Aufnahme an Informationsmaterial wird beim Lesen das Denken und Lernen gefordert und gefördert, wodurch unsere Konzentrationsfähigkeit geschult wird, die in Zeiten von Stories, TikToks und Reels unter kurzlebigen Bildern und Eindrücken leidet. Aber auch für unsere sensible und emotionale Persönlichkeitsentwicklung ist das Lesen eine unermesslich große Stütze: Mit der Aufnahme verschiedenster Informationen über einen längeren Zeitraum geht unterbewusst auch die Bewertung dieser einher. So lernen Leseverrückte schneller, zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu unterscheiden. Es liegt also nahe, dass solche Menschen eine erhöhte Urteilsfähigkeit besitzen und eher nicht dazu neigen, unüberlegt zu handeln oder eine Situation falsch einzuschätzen. In diesem Zusammenhang steht die Tatsache, dass Leseratten in puncto Problemlösungen immer die Nase vorn haben: Jeder denkbare Protagonist macht mindestens einmal im Laufe der Handlung einen Fehler, wenn nicht sogar mehrere, denn sonst wäre die Geschichte wohl schnell erzählt. Als Leser, Beobachter und Mitempfinder erlebt man die Fehler natürlich ebenso mit, wodurch man automatisch auch aus ihnen lernt. Verschiedene Möglichkeiten abzuwägen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und an die möglichen Konsequenzen zu denken sind Fähigkeiten, die lesende Menschen im Schlaf beherrschen und die auch im echten Leben für eine starke Persönlichkeit und psychisches Wohlbefinden sorgen.
Fühlen, Empfinden und Denken. Eine dreigliedrige Definition, die so viele Begriffe und Eindrücke umfasst und doch ein Ganzes beschreibt: unsere Seele. Dass Bücher ein echter Seelenbalsam sind, ist klar. Und den will ich auch nicht mehr missen. Ich will mit Harry, Ron und Hermine Horkruxe jagen und mich mit Bilbo Beutlin auf eine unerwartete Reise begeben. Ich will ein unscheinbares Menschenmädchen sein, das sich in einen Vampir verliebt. Ich will sehen, wie Faust unersättlich nach mehr Wissen strebt, will mit Katniss gegen das Kapitol kämpfen. Ich will in der Londoner Baker Street 221b verzwickte Fälle lösen, will miterleben, wie Darcy seinen Stolz und Elizabeth ihr Vorurteil überwindet und über das tragische Ende von Romeo und Julia weinen. Ich will mich vor Pennywise gruseln und mit dem kleinen Prinzen die Planeten besuchen, will Ferien auf Saltkrokan machen und mit Hazel Grace und Augustus nach Amsterdam reisen. Ich will all diese schaurigen, scherzhaften, schrecklichen, schönen Geschichten miterleben, denn mit jedem neuen Buch, das ich in die Hand nehmen darf, gewinne ich ein neues Erlebnis, einen neuen Seelenteil dazu.
Mara Bender
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Claudia (Samstag, 21 August 2021 10:09)
So ein schöner Text! Danke dafür! �