06|reisekolumne: whoUkraine

Zehn Uhr abends am Flughafen von Charkiw. Der Ort ist bereits zu großen Teilen verwaist. Es ist nicht so, dass man sich selbst zu Stoßzeiten viel Betrieb in dieser kleinen Einrichtung vorstellen könnte. In einem Café sitzt ein Pärchen, feiert gerade vermutlich ein langersehntes Wiedersehen. Hier und da stehen noch Taxifahrer und Chauffeure, die mit Namensschildern die ankommenden Gäste zu identifizieren versuchen. Unter den ankommenden Gästen befinde ich mich. Gemeinsam mit einer Freundin besuche ich eine weitere Freundin, die ihre Semesterferien daheim bei ihren Eltern verbringt. Was heißt daheim? Eigentlich kommen sie und ihre Eltern aus Donezk, der Hauptstadt einer der selbsterklärten autonomen Regionen des Landes, in denen mal mehr, mal weniger Bürgerkrieg herrscht. Kein Ort, Gäste zu empfangen, die weder des Russischen noch des Ukrainischen mächtig sind. Kein Ort, für die, die wie meine ukrainische Freundin, das Russische als ihre Muttersprache ansehen. Ohnehin sind sie und ihre Eltern schon sehr früh aus Donezk nach Charkiw geflohen, da war sie selbst noch nicht mal am FTSK. Wenn sie von ihrem Geburtsland erzählt, dann meist von der Großartigkeit ihrer Heimatstadt und dem Leben in der Ukraine bis zu jenem Sommer 2014. Danach wird die Geschichte traurig, schwermütig, an dieser Stelle nichts für einen Reisebericht. Nicht zuletzt, weil es nicht meine Geschichte ist und ich mir das Ausmaß kaum vorstellen kann. Aber meine Freundin erzählt dennoch und das weiß ich zu schätzen. Sie lädt uns ein, ihr Land kennenzulernen. Eine Einladung, die wir nur zu gerne annehmen.

Charkiw also, meiner Auffassung nach ebenfalls im Osten der Ukraine, nach nationalem Verständnis aber eher Norden. Die Metropole war selbst einmal Hauptstadt, hat mehr als eine Million Einwohner, ist in den westlichen Medien aber bislang kaum in Erscheinung getreten. Hier ist Russisch noch in der Öffentlichkeit akzeptiert, bislang. Just an dem Tag, an dem wir ankommen, wurden Gesetzesvorschläge publik, das Ukrainische als einzig offizielle Sprache zu etablieren und das Russische unter Strafe zu stellen. Noch beschäftige ich mich wenig mit diesen Vorhaben, schließlich freue ich mich schon, wenn ich überhaupt die kyrillischen Buchstaben entziffern und den Wortlaut mit korrekter Intonation wiederholen kann.

So sitzen wir also im Taxi vom Flughafen und fahren quer durch die Stadt. Charkiw ist so weitläufig, dass wir beinahe 45 Minuten benötigen, um durch die bereits leeren Straßen zur Wohnung der Eltern zu gelangen. Auch wenn es dunkel ist, fasziniert mich der Ort schon jetzt. Wie bei meiner Reise nach Armenien sichte ich vielerhand sowjetische Reminiszenzen: massive Gebäude aus Tuff, Oberleitungsbusse, die sich vermutlich gerade auf dem Weg ins Depot befinden, Maschrutki, Supermärkte, die 24/7 geöffnet haben, für westeuropäische Städte unfassbar weite Straßen innerorts.

Plötzlich biegt das Taxi von der Magistrale ab in eine Seitenstraße. Die Straßenbeleuchtung wird dunkler, die kleinen Gassen haben schwimmbadtiefe Schlaglöcher. Geschickt navigiert uns der Fahrer daran vorbei und kommt in einer Hochhaussiedlung, die vermutlich zur Wende entstanden ist und die ich im Gegensatz zu allem anderen in der Dunkelheit nicht gesehen habe, zum Stehen. Das hier wird also unser Aufenthaltsort für die nächsten zehn Tage sein. Nach der Fahrt mit einem wackeligen und für so ein Gebäude viel zu engen Fahrstuhl stehen wir plötzlich in der Wohnung und werden freudestrahlend mit Händen und Füßen begrüßt. Der Vater der Freundin kann weder Englisch noch Deutsch, die Mutter kann sehr wohl präzise Erklärungen über den Inhalt des Essens oder die Traditionen des Landes auf Englisch geben. Alles weitere erledigt unsere Freundin im Modus einer Verhandlungsdolmetscherin. Im Grunde wäre das aber auch nur in den seltensten Fällen notwendig geworden. Die abgedroschene Phrase aller Reisenden bewahrheitet sich: Irgendwie versteht man sich schon, sei es durch ein buntes Potpourri wild zusammengeworfener Begriffe aus dem Deutschen, Englischen und Russischen oder als Notbehelf rein über Mimik und Gestik.

So lernen wir noch am selben Abend die Reichhaltigkeit der slawischen Küche kennen. Myriaden Milchprodukte (Kondensmilch, gezuckerte Kondensmilch,Kefir, kondensierter Kefir, Vollmilch, gezuckerte Vollmilch, Quark, Sahne, uvm.), viel eingelegtes Gemüse, Smetana (Crème Fraîche des Ostens), Schwarzbrot, Kwas, gekochte Eier. Wenn dieses Abendessen der kulinarische Maßstab für die kommenden Tage sein soll, schwant mir Übles.

In den folgenden Tagen steht Sightseeing auf dem Programm. Für mich beginnt das staunende Touristendasein bereits mit dem Betreten der Metro. Ich komme voll auf meine Kosten, werden doch meine Erwartungen zur sowjetischen Architektur vollends erfüllt. Die U-Bahn-Stationen sind keine muffigen, kleinen Schächte, wie man sie etwa aus Barcelona oder London kennt. Im Gegenteil: Es handelt sich um unterirdische Paläste aus Blattgold und Marmor, prunkvoll und unzerstörbar. Hier und da hängt sogar noch ein vergessenes Emblem mit Hammer und Sichel. Auch die Fahrt in so einem Metro-Zug verdient eine Erwähnung. Es gibt keine Taktung, mal kommen die Züge im Abstand von einer Minute, mal muss man auch länger warten. Ist man dann eingestiegen, sollte man sich festhalten. Mit der gefühlten Geschwindkeit eines ICE rasen wir in einem soliden, jedoch auch älteren Modell durch die Tunnel. Die Fahrgäste begutachten uns argwöhnisch. Deutsch scheint nicht oft durch die Gegend zu hallen.

Als wir wieder an die Oberfläche gespühlt werden, stehen wir im Menschenstrom des Zentrums. Unsere Freundin navigiert uns weiträumig um den zentralen Platz mit dem Verweis auf ein großes Zelt an dem die ukrainische Flagge drapiert ist. Sie möchte vermeiden, dass wir in diesen Konflikt hineingezogen werden, der das Land schon länger in Aufruhr hält. Allgemein bin ich erstaunt darüber, wie stark sich das Verhältnis von Gesellschaft zu Militär zu unserer deutschen Wahrnehmung unterscheidet. In regelmäßigen Abständen laufen wir an patriotischen Werbebannern für die Armee vorbei. Auch kommen uns häufig Militärangehörige in voller Montur entgegen.

Weiterhin besuchen wir einen Freizeitpark, von dessen Riesenrad wir einen Überblick über die Weitläufigkeit der Stadt erhalten. Bis zum Horizont erstreckt sich Charkiw und dennoch ist kein Ende in Sicht. An einer Schießbude kommen wir mit dem Betreiber ins Gespräch. Als der Mann erfährt, dass wir ausländische Gäste sind, erzählt er freudestrahlend, dass seine Tochter derzeit in Deutschland studiert – nur die Stadt kann er nicht aussprechen. Wir vermuten, er versuchte Tübingen zu sagen.

Ein paar Tage später besuchen wir eine jugendliche, entspannte Geschäftsform, die wir so in Westeuropa noch nicht kannten: Ein sog. Anti-Café, in dem man nicht für den Verzehr zahlt, sondern für die verbrachte Zeit. Man zahlt pauschal für eine Zeiteinheit und kann dafür unbegrenzt lesen, Tischkicker spielen, die Videokonsolen benutzen und selbstverständlich Kaffee und Süßkram verzehren. Auch hier werden wir das Gefühl nicht los, eine kleine Attraktion zu sein, als wir uns auf Deutsch unterhalten. Nur werden wir weniger argwönisch betrachtet. Die Jugendlichen scheinen eher begeistert zu sein, dass nicht nur Einheimische vorbeischauen.

Nach sechs Tagen Charkiw ist es an der Zeit, umzuziehen. Wir reisen nach Kiew, um noch ein paar Eindrücke aus der Hauptstadt mitzunehmen. Erneut erleben wir eine Anekdote, die für mich dieses Land so faszinierend macht. Wir wollen am Tag nach der Zeitumstellung von Winter- auf Sommerzeit den Zug nach Kiew nehmen. Durch die Konflikte zwischen westlicher und östlicher Kultur in der Ukraine ist jedoch nicht klar, ob die Zeit überhaupt umgestellt wird. Wir wissen also bis zum Abend vor unserer Abreise nicht, zu welcher Uhrzeit denn nun der Zug fährt.

In Kiew werden wir bei der Überquerung der Brücke über den Fluss Dnjepr von der riesigen Statue Mutter Heimat gegrüßt, die mit Schild und Schwer auf einem nahegelegenen Hügel über der Stadt thront. Allgemein unterscheidet sich die Hauptstadt doch beträchtlich von Charkiw. Es gibt mehr Hochhäuser, der Verkehr scheint deutlich dichter und unsere Freundin verbietet uns aufs Strengste, überhaupt irgendwelche russischen Vokabeln zu verwenden. Auch sollen wir nach Möglichkeit einfach weitergehen, falls wir von irgendjemanden angesprochen werden. Und generell gilt es, größere Menschenaufläufe zu vermeiden – alles reine Vorsichtsmaßnahmen.

Bei der Fahrt zu unserem Hostel werde ich in der U-Bahn von meinen beiden Begleiterinnen getrennt, der Menschenstrom ist einfach zu dicht, als dass ich mit einem Trekking-Rucksack hätte folgen können. So muss ich mich also für kurze Zeit allein durchschlagen – ein seltsames Gefühl, zumal ich die Landessprache nicht beherrsche und meine Umgebung in mir einen offensichtlich Ortsfremden sieht. Aber gut, nachdem die nächste Metro in ihrem unregelmäßigen Takt eingefahren ist und mich sicher und nur leicht zerquetscht zu meinen Begleiterinnen gebracht hat, ist auch das überstanden.

Wir beziehen unser Quartier in einem Hochhauskomplex im 13. Stock mit Blick auf die Mutter-Heimat-Statue. Die Verschnaufpause ist nur kurz, wir wollen schließlich die Stadt sehen und so machen wir uns zunächst zu Fuß auf, die Statue aus nächster Nähe zu betrachten. Auf dem Gelände der Mutter-Heimat befinden sich ebenfalls ausrangierte Panzer, vor dem Touristen stolz posieren, Monumente vom Großen Vaterländischen Krieg (der sowjetische Name für die Jahre 1941-1945) sowie – was mich besonders interessiert – eine Tafel mit den sog. Heldenstädten der Sowjetunion. Während ich mir etwa die Bedeutung von Leningrad, Odessa, Sewastopol und Stalingrad selbst erschließen kann, bedarf es der landeskundlichen Kompetenz unserer Gastgeberin, Orte wie Kertsch, Tula oder Noworossijsk einzuordnen. Ungeachtet der Lücken zu diesem Hintergrundwissen bleibe ich erfürchtig fasziniert vor dieser Zurschaustellung der Landesgeschichte stehen. So etwas ist uns in Deutschland bisweilen unbekannt oder nur in subtilerer Form zugänglich.

Unweit hiervon liegt das Kloster Pechersk Lavra, was wir während unseres Aufenthaltes ebenfalls besuchen. Auch hier komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Selten habe ich so viel Gold als Bauelement gesehen,wie auf den Dächern des Klosters. Wir streifen umher, genießen den Ausblick vom Turm des Klosters über die ganze Stadt und setzen unsere Erkundungstour bis zum Goldenen Tor (Zoloti Vorota) von Kiew fort, an dem, wie darf es in meiner klischeedurchzogenen Wahrnehmung anders sein, ein Kosackenduett volkstümliche Musik spielt: eine wunderbare Abrundung zur Kulisse.

Überhaupt sind wir froh, eine Muttersprachlerin an unserer Seite zu haben, die uns viele Zusatzinfos zu den Orten und Gepflogenheiten geben kann, die wir als reine Touristen vermutlich nie erfahren hätten. So flanieren wir entspannt über die Aorta der Hauptstadt, dem Boulevard namens Chreschtschatik, das an einem Ende in den berühmten Maidan-Platz mündet. Allen Bildern der westlichen Medien zum Trotz wirkt der Platz ruhig. Nur machen wir erneut einen großen Umweg um ein Zelt mit nationaler Flagge. Was einzig wirklich an die Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre erinnert, sind verschiedene nationale und separatistische Symbole, die an den Statuen auf dem Platz angebracht sind. Als letzte Sehenswürdigkeit fahren wir zwei Deutschen noch allein zum Kiewer Fernsehturm, einer gigantischen Gittergerüstkonstruktion, die nur unter der Auflage errichtet werden durfte, dass die Bauhöhe reduziert wird, damit sie nicht den Moskauer Fernsehturm übertrifft.

 

Zum Ende unserer Reise genehmigen wir uns dann noch einen exklusiv slawischen Lieferservice. In der Hauptstadt gibt es ein Restaurant, das Wareniki und Pelmeni (in Polen als Piroggi bekannt) nicht nur im Haus anbietet, sondern auch liefert. Diese geniale Köstlichkeit in verschiedenen Variationen wird vermutlich auf ewig als Ikone der slawischen Küche eingebrannt bleiben – so unbeschreiblich, dass ich an dieser Stelle nur eine imperative Empfehlung aussprechen kann, das Gericht zu probieren. Was mich angeht, so habe ich direkt nach der Rückkehr nach Deutschland die Eltern unserer Freundin nach einem authentischen Rezept gefragt.

 

Felix Hoberg


- Artikel aus dem 06|kurier vom SoSe 2017 -

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