Über den Zusammenhang von Musikalität und Sprachbegabung - Oder: Warum sind eigentlich so viele Germersheimer so unglaublich musikalisch?

„Musik allein ist die Weltsprache und braucht nicht übersetzt zu werden.“

(Berthold Auerbach)

 

Schon der Schriftsteller und Humanist Berthold Auerbach verstand es trefflich, die Bedeutung von Musik für den Menschen in nur einem Satz zusammenzufassen: Musik ist international, interkulturell, allseits verständlich und gehört, so wie Sprache auch, zum menschlichen Lebensumfeld. Und deshalb verwundert es kaum, dass es einem leidenschaftlichen Hobbymusiker wie mir beim musikalischen Aufgebot des FTSK fast schon die Sprache verschlägt.

Nicht nur, dass hier unzählige Sprachen und Kulturen aufeinander treffen, nein, auch erscheint der FTSK auf den ersten Blick unwahrscheinlich musikalisch: Neben einigen Bands wie etwa The One Day Fly oder The Fortunate Fools (nun unter dem Namen Pluto Rising auf den Brettern, die die Welt bedeuten, unterwegs), der Irish-Folk-Combo und einigen begeisterten Hobby-DJs, die es regelmäßig wieder zum Auflegen auf den Campus verschlägt, wartet der Germersheimer Campus außerdem sowohl mit einem Unichor (in diesem Winter pausierend) als auch der noch relativ jungen Musikgemeinschaft auf. Dazu gesellen sich Events wie der Karaokeabend vom 18.12.2016, die monatlichen Jam Sessions im Allegro, zu denen jeder leidenschaftliche Musiker herzlich eingeladen ist, sowie die in diesem Wintersemester von Marcus Wiedmann und Stefan Feihl ins Leben gerufene Vortragsreihe “Musik und Bier”, die alle zwei Wochen in der Musikkneipe Amadeus stattfindet und voraussichtlich auch im kommenden Sommersemester fortgeführt wird. Und wer sich sonst auf dem Campus umhört, findet innerhalb kürzester Zeit unzählige musikalische Studenten. Interviews zufolge sollen auch die EU-Dolmetscher besonders musikalisch sein. Dem aufmerksamen Beobachter (oder zumindest unserer Redaktion vom 06|kurier) stellt sich also zwangsläufig die Frage: Gehen Sprachbegabung und Musikalität grundsätzlich miteinander einher?

 

Fest steht, dass bereits in der Antike ein Bildungskanon entstand, der sowohl Sprache als auch Musik integrierte: die septem artes liberales. Das durch diesen Kanon angestrebte Ziel war die Schaffung einer grundlegenden kulturellen Basis in der Gesellschaft. Darüber hinaus erhoffte man sich, die Natur für den Menschen fügsam zu machen sowie eine innere Ordnung zwischen dem Denken und Wollen des Menschen zu erzielen. Die septem artes liberales gliedern sich schließlich auf in das eher sprachlich orientierte Trivium, also den „Dreiweg”, der aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik besteht, und in das Cuadrivium, den „Vierweg”, dessen Gemeinsamkeit in dem Erreichen von Harmonie besteht und der die Bereiche der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und der Musik umfasst. Beides gehörte also bereits in der Antike zu den Grundkompetenzen eines gebildeten Menschen. Seinen Weg in die Gesellschaft fand dieser Bildungskanon schließlich in der Karolingischen Renaissance; es war Alkuin von York, der die Bildungsreform nach englischem Vorbild umsetzte. Sprachwissenschaftler sehen in dieser Bildungsreform den Beginn der translatio studii in Europa.

 

Darüber hinaus wurden Dichter damals als „Sänger” bezeichnet, im keltischen Kulturkreis auch “Barde” (altkeltisch Bardos) genannt, was ebenfalls für eine enge Verbindung beider Künste spricht. Dies liegt nicht zuletzt auch an der Art, wie die Sänger ihre Verse vortrugen. Kein Wunder, geht doch auch der Begriff der Lyrik auf lat. lyricus, eigentlich ‛zum Spiel der Lyra gehörig’, (aus gr. lyrikós, zu gr. lýra ‛Leier’) zurück. Einer der berühmtesten Lyriker der Antike war Pindar, ein Auftragsdichter, der auch das griechische Wort mousiké (altgr. ‘Musenkunst, Musik’) prägte und damit die Dreieinigkeit von Sprache, Musik und Tanz bezeichnete. Sowohl Homers Ilias und die Odyssee als auch Vergils Aeneis sind in Gesänge statt Bücher eingeteilt, und selbst Goethes Drama Faust wird in der einleitenden Zueignung als „Gesang” bzw. „Lied” bezeichnet:

 

„Sie hören nicht die folgenden Gesänge,

Die Seelen, denen ich die ersten sang;

Zerstoben ist das freundliche Gedränge,

Verklungen, ach! der erste Widerklang.

Mein Lied ertönt der unbekannten Menge,

Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang,

Und was sich sonst an meinem Lied erfreuet,

Wenn es noch lebt, irrt in der Welt zerstreuet.”

(Goethe: Faust. Der Tragödie Erster Teil.)

 

Musik und Dichtung, und somit auch (gesprochene) Sprache, sind folglich seit jeher eng miteinander verbunden. Das sei auch wenig verwunderlich, da beides vereinfacht ausgedrückt ähnliche anatomische und kognitive Grundvoraussetzungen erfordere, erklärt Dr. Mathias Scharinger vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. „Für beides brauchen Sie einerseits ein gutes Gehör, und andererseits eine optimale Verarbeitung der Hörreize in den entsprechenden kortikalen Regionen im Gehirn. Wenn man Musikalität und Sprachbegabung also so auffasst, dass man die akustischen Reize gut hört und gut verarbeiten kann, dann zeigt sich ganz deutlich ein enger Zusammenhang zwischen den beiden Bereichen”, sagt Scharinger. Dieser Zusammenhang werde auch schon bei der Terminologie in beiden Fachgebieten deutlich: Sowohl in der Sprache als auch in der Musik verwendet man beispielsweise den Begriff der Prosodie, der lautlichen Struktur eines Liedes oder eines gesprochenen Satzes. In der Neurowissenschaft sind sich die Forscher allerdings hinsichtlich der genauen Beziehung zwischen Sprache und Musik noch uneins.

 

Das menschliche Gehirn lässt sich zunächst in zwei Hemisphären einteilen: Während die linke Gehirnhälfte hauptsächlich für Sprache zuständig ist, beschäftigt sich die rechte Gehirnhälfte eher mit abstrakten Denkprozessen wie etwa dem räumlichen Denken. Beide Gehirnhälften sind miteinander durch den Corpus Callosum, auch Balken genannt, verbunden, der die Kooperation und den Informationsaustausch zwischen den beiden Hemisphären gewährleistet. Darüber hinaus lässt sich jede Hemisphäre in vier Lappen einteilen, die für verschiedene kognitive Prozesse zuständig sind: Während der Frontallappen, der an der Stirn liegt, die menschliche Motorik steuert, beschäftigt sich der Parietallappen, der etwa am Scheitel liegt, mit unseren sensorischen Fähigkeiten. Der Temporallappen, lateral an den Schläfen liegend, verarbeitet vor allem akustische Reize und der Okzipitallappen, der am Hinterkopf liegt, ist für das Sehvermögen zuständig. Die beiden wichtigsten Bereiche des menschlichen Sprachverstehens und der -produktion jedoch sind das das Wernicke- und das Broca-Areal, die beide in der linken Hemisphäre liegen. Das Wernicke-Areal zählt hierbei zum primären auditiven Cortex, dem die Wahrnehmung gesprochener Sprache unterliegt. Musik dagegen wird verstärkt im sekundären auditiven Cortex in der rechten Hemisphäre verarbeitet, was für einige Forscher wiederum eher gegen eine gemeinsame Verarbeitung im Gehirn spricht. Anzumerken ist aber natürlich, dass es sich hierbei nur um Tendenzen handelt – so zeigen fMRT-Aufnahmen sowohl beim Hören als auch bei der Produktion von Musik und Sprache Aktivierungsmuster in beiden Hemisphären, was somit bei beiden Prozessen für die Einbeziehung von Gehirnarealen im gesamten Cerebrum spricht.

 

Generell ließen einige Studien darauf schließen, dass das Broca-Areal jedoch sowohl die Verarbeitung sprachlicher als auch musikalischer Syntax unterstütze, so Scharinger. Aus diesen Studien gehe auch hervor, dass im Gehirn Bereiche existieren, die sowohl auf Sprache als auch auf Musik gleichermaßen reagieren und somit als „Brücke” dienen könnten (beispielsweise die Gehirnareale, die für Kreativität zuständig sind). Entscheidend sei bei einer näheren Betrachtung der Thematik allerdings in erster Linie, ob von Sprach- und Musikproduktion oder -perzeption die Rede ist und von welcher Verarbeitungsebene man letztlich ausgehe. Hinsichtlich der tatsächlichen Korrelation von Sprachbegabung und Musikalität kann daher keine allgemeingültige Aussage getroffen werden; die oben erwähnten Studien lassen jedoch darauf schließen, „dass ein musikalischer Mensch wahrscheinlich auch ein besseres Sprachgefühl hat, und umgekehrt. Nehmen Sie die Studie zum Broca-Areal: Das ist ein Indiz, dass es dabei nicht nur ums gute Hören geht, sondern auch darum, wie man die gehörte Information integriert und interpretiert.” So konnte bei Untersuchungen beispielsweise festgestellt werden, dass Musiker nicht nur über vergrößerte Hör- und Bewegungszentren verfügen (welche Gehirnareale stärker ausgeprägt sind, ist allerdings u.a. abhängig von der Art des Instruments), sondern auch die Koordinationszentren im Kleinhirn und überraschenderweise auch das Broca-Areal deutlich stärker ausgeprägt sind als bei Nicht-Musikern. Zudem schneiden Musiker bei Aufgaben zur Sprachperzeption scheinbar besser ab als Nicht-Musiker. Neueste Studien führen dies jedoch in erster Linie auf allgemein ausgeprägtere kognitive Fähigkeiten zurück wie etwa einer besseren Verarbeitung von akustischen Reizen, höherer selektiver Aufmerksamkeit und größeren Kapazitäten im Arbeitsgedächtnis, vornehmlich im auditorischen Bereich. Ursache hierfür wäre also nicht unbedingt eine gegenseitige Beeinflussung von Musikalität und Sprachbegabung, sondern schlicht eine bessere Ausprägung gewisser Gehirnareale, die allgemein eine bessere Wahrnehmung von Sprache und Musik bedingen. Diverse Studien belegen zudem, dass sich Musikalität positiv auf den Erfolg beim Spracherwerb auswirkt.

 

„Im Hinblick auf die Studien, die überlappende Gehirnregionen für Sprache und Musik nahelegen, kann man natürlich argumentieren, dass das Training in einer Modalität (Musik) auch die Kompetenz in der anderen Modalität (Sprache) begünstigt”, gibt Scharinger zu bedenken, der nicht nur sieben Sprachen spricht, sondern selbst lange Zeit Flöte und Klavier gespielt hat, aktiv singt und sich allgemein sehr für Musik begeistert. Als Beispiel führt er das „absolute Gehör“ an, also die Fähigkeit, einen musikalischen Ton direkt und ohne Referenz zu klassifizieren. Amerikanischen Studien zufolge ist das absolute Gehör umso ausgeprägter, je früher mit der musikalischen Ausbildung begonnen wurde. Allerdings hat man auch festgestellt, dass sich das absolute Gehör ebenso über die Spracherfahrung modulieren lässt: „So zeigten chinesische Studenten, in deren Sprache absolute Tonhöhenunterschiede Bedeutungsunterschiede kodieren, eine höhere Wahrscheinlichkeit für ein absolutes Gehör, bei gleichem Anfang ihres musikalischen Trainings“, ergänzt er. Wer ein gutes Gehör hat, muss aber noch lange kein akzentfreier Sprecher sein, denn einen Akzent herauszuhören heißt noch lange nicht, diesen auch bei sich selbst zu hören. „Allerdings kann das gute Hören eine Voraussetzung für ein strategischeres Lernen sein”, wirft Scharinger ein.

 

Apropos Lernen: Studien haben bewiesen, dass leises Gerede im Hintergrund während einer Konzentrationsphase (z.B. beim Lernen oder beim Dolmetschen) deutlich mehr stört als beispielsweise Musik oder weißes Rauschen. Diese auftretende Interferenz wird als „informational masking“, also Maskierung durch Geräusche, denen der Mensch Bedeutung beimisst, bezeichnet. Dadurch, dass Sprache die menschliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, lenkt sie von der eigentlichen Aufgabe ab. „Musik dagegen sollte weniger stören, aber nur, wenn sie ohne Gesang ist. Die Interferenz spricht also nicht ganz gegen die Verbindung von Sprache und Musik, weist aber sicherlich auf einen der Hauptunterschiede hin, nämlich den der Semantik. Die Beziehung von akustischem Signal und Bedeutung ist in der Musik definitiv anders als in der Sprache”, stellt er abschließend fest.

 

Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass von einer eindeutigen Korrelation zwischen Musikalität und Sprachbegabung im Sinne von gemeinsamer Verarbeitung in gemeinsamen Hirnarealen nach derzeitigem Forschungsstand noch nicht grundsätzlich auszugehen ist. Vielmehr scheint das genaue Ausmaß dieser Verbindung zwischen diesen beiden Elementen noch nicht ausreichend erforscht und somit wissenschaftlich erwiesen zu sein; es bedarf weiterer und tiefergehender Untersuchungen. Dennoch ist ein gegenseitiges Wechselwirken nicht von der Hand zu weisen. Bei aller Theorie steht allerdings auch fest, dass Musik vor allem das menschliche Belohnungssystem anspricht und der Körper unzählige Glückshormone ausschüttet – und das ist doch das, was wirklich zählt. Denn wie wir alle wissen:

 

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.”

(Friedrich Wilhelm Nietzsche)

 

 

Katja Schröter


- Artikel aus dem 06|kurier vom WiSe 2016/17 -

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