Sommerschule in Yerevan: Armenien nicht nur als Tourist erleben

Ihr habt in den nächsten Semesterferien noch nichts vor? Dann können wir euch wärmstens die Sommer- und Winterschulen des DAAD ans Herz legen - Bewerbungen sind abhängig von der jeweiligen Uni auch jetzt noch möglich!
Was euch erwartet? Unser Autor hat sich im vergangenen Jahr einmal Armenien näher angesehen und verzaubern lassen.


Es sind Semesterferien in Rheinland-Pfalz, das Wintersemester 15/16 ist gerade vorbei und so allmählich erkämpft sich die Sonne ihren angestammten Platz in der Toskana Deutschlands zurück. An einem Tag im April erreicht mich plötzlich eine Rundmail vom DAAD; mit der Ausschreibung einer Sommerschule in Armenien. So wirklich bemerke ich diesen Aufruf erst gar nicht, schließlich habe ich nichts mit diesem Land zu tun. Doch je länger ich mich über den kleinen Staat im Kaukasus informiere, umso stärker entfacht in mir das brennende Interesse, mal etwas mehr meiner westeuropäischen Komfortzone zu entfliehen.

 

„Sprache, Kultur und Gesellschaft“ lautet der Untertitel des Programms, angesichts dessen ich mich ohnehin sofort angesprochen fühle. Ich mache also Nägel mit Köpfen: Mein August 2016 wird 2000km südöstlich von Deutschland verbracht - nicht aus Urlaubsgründen, auch wenn das Vorhaben sicherlich so anmutet.

 

Doch worin liegt der Reiz dieses Landes? Ich selbst studiere am FTSK romanische Sprachen, was soll ich da überhaupt mit Armenisch? So recht finde ich bis zum Abflug keine Antwort. Vielmehr sind meine Eltern nur besorgt und fragen sich,ob ein solcher Abstecher in diesem turbulenten Jahr eine so weise Entscheidung sei. Ich lasse jedoch nicht locker und als die Annahmebestätigung kommt, buche ich schleunigst einen Flug und setze mich mit dem Land noch intensiver auseinander. Die Organisation der Sommerschule sieht vor, dass die Teilnehmer in Gastfamilien untergebracht werden. Ein Punkt mehr, der mich bestärkt, dorthin zu reisen.

 

Der August rückt also näher, plötzlich sitze ich im Terminal am Frankfurter Flughafen, warte auf meinen Transitflug über Moskau nach Yerevan. In den frühen Morgenstunden soll ich dort von meiner Gastmutter in Empfang genommen werden. In meiner typisch deutschen Einstellung ist mir das neben aller Dankbarkeit dennoch unangenehm, schließlich reise ich an einem Sonntag an. Aber eine Aussage, die sich über die Wochen in der Sommerschule wie ein Mantra wiederholen wird, bewahrheitet sich schon am Flughafen: Die Armenier behandeln mich wie ein Familienmitglied. Nachdem ich eine Traube Taxifahrer abgewimmelt habe, die mich mit Brocken filmreifen Deutschs überzeugen wollen, dass Sie schneller und sicherer vom Flughafen in die Stadt gelangen als jeder Kollege, werde ich auch schon herzlich von meiner Gastmutter empfangen. Offensichtlich hatte sie beinahe schon eine Stunde vor meiner Landung auf mich gewartet – nur zur Sicherheit.

 

Nun sitze ich also doch in einem Taxi und das Versprechen vom schnellen und gleichzeitig sicheren Fahren erfüllt sich nicht. Als gäbe es in Yerevan einen Preis zu gewinnen, rast der Fahrer über die sonntäglich leeren Boulevards. Hier und da streunen Hunde. Noch direkt am Flughafen wird unser Taxi von einem Rudel ausgebremst. Danach aber fliegen nur noch die architektonisch-bürgerlichen Reminiszenzen der Sowjetunion an mir vorbei: Schwere, massive Häuser aus Tuff (einem roten bzw. braunen Stein), Überlandleitungen sowie einige kleinere Kohorten an Ladas. Und über allem strahlt der Ararat, der Berg der Berge, Vater und Beschützer aller Armenier, Bezugspunkt des armenischen Selbstverständnisses und Fixpunkt der nationalen Identität. Das Ganze mutet mir allerdings sehr seltsam an, schließlich liegt der Berg auf türkischem Gebiet. Und dennoch besitzt das über 5000m hohe Massiv eine Strahlkraft, die bis in die weltweite Diaspora hinausreicht.

 

Türkei: Da war doch mal was. Seltsamerweise vernehme ich wenige kritische Worte gegen das Land an sich. Mehr ist es der tiefe Schmerz über den Genozid im Jahre 1914, der seine Nachwirkungen bis heute zeigt. Das Selbstbild des Landes ist eng mit dem Berg Ararat und den Ereignissen des 1. Weltkriegs verbunden.

 

Was mich am meisten überrascht, ist der Kontrast zwischen Post-Sowjet-Flair, moderner Stadt und bitterer Armut. Mit dem derart harschen Aufeinandertreffen dieser drei Pole hatte ich trotz intensiver Vorbereitung nicht gerechnet. Im Herzen ist Yerevan nämlich eine Stadt, die sich von ihrer Schönheit, ihrer Ausstattung und ihrem Lebensgefühl nicht hinter Metropolen wie Barcelona oder Paris verstecken muss. Ich flaniere mit den anderen Sommerschülern von Café zu Café, hier und da haben hippe Armenier ein Lokal eröffnet, das beinahe alternativer ist als alles, was man aus Hipster-Hochburgen wie Berlin kennt. Gleichzeitig finden sich direkt nebenan jedoch auch urtümliche, traditionelle Einrichtungen. Diese Mischung scheint auch zum Flair der Stadt beizutragen. Fährt man allerdings etwas aus dem Zentrum hinaus – oder macht sogar wie ich einen Ausflug in die umliegenden Dörfer – dann wechselt das Bild zu hastig verlassenen, notdürftig geflickten und unvollendeten Bauten, die vermutlich in der Übergangszeit zwischen Sowjetunion und Staatsgründung nicht mehr tragbar wurden. Dieses Bild wird durch das desaströse, erst langsam erstarkende Antlitz der nordarmenischen Stadt Gjumri verstärkt, die 1988 von einem schweren Beben komplett dem Erdboden gleichgemacht wurde. Noch heute leben 4000 Familien in Notunterkünften: ca. 3x6m große Container, die in der und um die Stadt herum aufgestellt wurden. So wirklich wird mir das Ausmaß erst klar, als ich vor einem dieser Container stehe. Es sind nicht 4000 Menschen, sondern 4000 Familien – mehrere Generationen in einem 18 m² großen Container. Mich wundert, dass selbst 28 Jahre nach der Katastrophe noch so viele Menschen auf eine Entschädigung oder gar auf eine Wohnung warten. Doch die Wohnsituation ist angespannt, nicht nur aufgrund der Armut. So hat es sich ergeben, dass viele Menschen die 18 m² als Sicherheit empfinden und verständlicherweise das Risiko nicht eingehen wollen, plötzlich durch einen Umzug kein Dach mehr über dem Kopf zu haben.

 

Unter der Last dieser Eindrücke ist der Rückweg nach Yerevan über eine nur bedingt asphaltierte Autobahn, die in Deutschland kaum den Namen einer Straße verdient hätte und bei der sich selbst deutsche Bauern wegen der schweren Passierbarkeit beschwert hätten, eine sanfte Tour. Die schier unendlichen Weiten, in denen sich Hügel, Bäume, Gasleitungen, verlassene Ortschaften und verrostete Trucks bis zum alles überragenden Ararat in der Ferne abwechseln, mildern mit zunehmender Fahrzeit die Impressionen aus Gjumri. Eine richtige Euphorie über die Vielseitigkeit dieses kleinen Landes will nach dem Gesehenen des Tages aber im Vergleich zu den anderen Ausflügen nicht aufkommen. Dies mag auch daran liegen, dass die anderen Exkursionen leichterer Natur waren, wie etwa der Besuch bei einem amerikanisch-armenischen Think Tank, der die Regierung des kleinen Landes in internationalen Fragen berät, einem mehr oder minder politisch unabhängigen Fernsehsender oder auch die unzähligen Klöster und Kirchen, die bereits im einzig verfügbaren, deutschsprachigen Landesführer über Armenien angepriesen werden. Auf diesen Ausflügen spiegelt sich für mich die Mentalität des kaum 3 Mio. Bürger zählenden Volkes wider. Armenier sind geschäftig, sie sind sehr stolz auf das, was sie in diesem Ländchen nach Ende der Sowjetunion aufgebaut haben. Die Liste an Persönlichkeiten und Errungenschaften, die aus Armenien stammen, ist schier unendlich und sicherlich in mancherlei Hinsicht beschönigt, aber keineswegs komplett abwegig. Allein die riesige Diasporagemeinde in den Vereinigten Staaten zählt Mitglieder wie die Kardashians, Cher oder die Band „System of a Down“. Gern wird auch nur der entfernteste Urahn als Beleg der armenischen Abstammung genommen wie im Falle Garri Gasparovs oder Andre Agassis. Die Sommerschule führte diese Auslegung so weit, dass demnach im Grunde jeder (ein) Armenier sei – zumindest im Herzen. Nicht zuletzt erscheinen mir Armenier auch als unglaublich pragmatisch: Sicherheitsgurte im Auto sind überbewertet, genauso wie das Schließen der Tür, wenn der Bus doch ohnehin nur 100m weiterfahren muss. Wenn etwas nicht so funktioniert, wie es soll, kann man nicht einfach aufhören und komplett den Dienst versagen.

 

Armenier blicken außerdem mit einem Auge nach Russland, mit dem anderen in den Nahen Osten und schielen zugleich auf das einerseits nahe und doch so ferne Europa. Zuweilen kommt es mir so vor, als liege Armenien genau auf dem Schnittpunkt dieser drei Kulturen: Mal europäisch, was das Streben nach Fortschritt und Entwicklung angeht. Mal russisch, was den Aufbau des Alltags angeht, auch, da Russland die Grenzsicherung Armeniens übernimmt. Mal orientalisch, besonders was das Essen und auch die Gesellschaft angeht.

 

Müsste ich die Zeit in dem kleinen Land in wenigen Schlagwörtern zusammenfassen, würde ich mit folgenden Punkten abschließen:

 

·         Der Ararat ist überall.

·         Jeder ist im Grunde Armenier.

·         Westarmenien existiert noch immer, auch wenn die Türkei dies anders sieht.

·         Die armenische Küche ist unglaublich.

·     Das armenische Volk ist pathetisch, zum Teil wehleidig, aber stets gastfreundlich und herzlich.

 

 

Felix Hoberg


- Artikel aus dem 06|kurier vom WS 2016/17 -

 

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