06|Reisekolumne: Achill Island

 

Als die Wiege für Übersetzer und Dolmetscher in Deutschland schlechthin findet sich am FTSK Germersheim vermutlich kein einziger aktueller oder ehemaliger Student, der nicht bereits ein Auslandssemester hinter sich hat, nicht regelmäßig in fremden Ländern unterwegs ist oder gar selbst aus dem Ausland hierhergekommen ist, um hier zu studieren. Eins ist Fakt: Germersheimer sind Weltenbummler.

Was uns auszeichnet? Die Freude an anderen Sprachen und Kulturen, ständige Reiselust, permanentes Fernweh, Neugierde in jeder einzelnen Faser unseres Seins, eine ständig in unseren Adern pochende Sehnsucht nach Freiheit und danach, die Welt zu entdecken – multikulti in Perfektion. Nichts fasziniert uns mehr als neue Sprachen, neue Orte, neue Kulturen und Menschen, neue kulinarische Genüsse...
Und wer von uns kennt es nicht, die übersprudelnden Endorphine nach einer neuen Auslandserfahrung, dieses innerliche Sehnen nach mehr? Wer hat nicht schon einmal sein Herz an einen bestimmten Ort verloren, sich dort unwahrscheinlich zuhause gefühlt, konnte sich seiner Faszination kaum erwehren – und wurde nicht nach der Heimreise noch Wochen später des Nachts von lebhaften Träumen heimgesucht, in denen er immer und immer wieder von der Magie dieses Landes, dieser Stadt von Neuem gefesselt wurde?

 

Und aus diesem Grund haben wir, die 06|Redaktion, uns dazu entschlossen, diese Gefühle ein wenig bewahren zu wollen und deshalb diese Reisekolumne zu starten. Erzählt uns von Eurem Auslandsaufenthalt, von Eurem letzten Urlaub, Eurem Lieblingsort auf diesem Planeten – wir werden (möglichst) wöchentlich einen Eurer Artikel veröffentlichen. Gerne natürlich auch mit ultimativen Insidertipps!

 

 

Wir können es kaum erwarten, von Euren Eindrücken zu hören – und natürlich wird auch der eine oder andere Dozent dazu seinen Beitrag leisten!

 


In dieser Woche starten wir mit...

 

...Achill island

Mit geöffnetem Fenster fahre ich die für meinen Geschmack viel zu enge Küstenstraße entlang. Aus dem Radio schallt in voller Lautstärke die am Tag meiner Abreise releaste Tropical-House-Nummer „My Way“ von Calvin Harris, während warme Luft durch das Fenster hereindringt, mir der typische Meeresduft in die Nase steigt und die Sonne vom beinahe wolkenlosen Himmel gnadenlos auf mich und meinen kleinen Mietwagen herunterbrennt. Ich seufze zufrieden und rücke meine Sonnenbrille zurecht, als ich die letzten Häuser des kleinen Ortes Dooagh hinter mir lasse und die grünen Hügel vor mir ansteuere, die eine kurvenreiche Straße hinaufführt. Nach dem vollkommen grauen, verregneten und windigen Morgen, den ich irrerweise wandernd am Croagh Patrick verbracht habe, ist der Sonnenschein jetzt fast schon Balsam für die Seele.           


Seit nunmehr drei Tagen befinde ich mich auf meinem allerersten Roadtrip – mutterseelenallein im irischen Linksverkehr, ohne klares Ziel. Nach dem Stress im vergangenen Jahr wollte ich mich einfach endlich mal treiben lassen und ordnen können, abschalten, die letzten Monate in Ruhe reflektieren. Atmen können. Deshalb hatte ich mir im Voraus im Grunde nur ein paar Fixpunkte via AirBnb gesucht, wo ich die Nächte verbringen konnte; sonst wollte ich unterwegs einfach nur dort anhalten, wo es mir gerade gefiel.
Und so war ich an diesem Mittwochmorgen im strömenden Regen, nachdem ich von meiner Hostfamilie mit einem hoffnungsvollen „Das Wetter soll bald besser werden!“ verabschiedet worden war, aufgebrochen, um wild entschlossen von einem kleinen Parkplatz im Städtchen Murrisk aus den 764m hohen „heiligen Berg“ zu erklimmen und die Aussicht über die Clew Bay mit ihren 117 kleinen Inseln, Drumlins genannt, zu genießen. Die Idee, wirklich den Gipfel zu erreichen, hatte ich allerdings schon während der Fahrt und auf Grund der Bitte meiner Hosts, mich bei dem Wetter keineswegs am Aufstieg zu versuchen, verworfen und mich stattdessen für eine harmlosere Route entschieden.
Ich sollte mich nur wenig später für diese Entscheidung beglückwünschen – nach rund anderthalb Stunden Wanderung im Regen, in denen ganze Sturzbäche die Hänge herunter strömten, kam ich schließlich zwar glücklich und mit unbeschadeter Kamera, aber bis auf die Knochen durchnässt und den Matsch bis zu den Knien klebend just in dem Moment wieder auf dem sicheren Parkplatz an, als der Regen endlich aufhörte, die Wolken aufrissen und den Blick auf den Gipfel und einen ersten Fetzen blauen Himmels freigaben. Man hatte mich freilich vor dem wechselhaften irischen Wetter an der Westküste gewarnt, aber ich muss durchaus zugeben: Ich kam mir schon irgendwie veräppelt vor. Um den Zeitplan meines Roadtrips dann nicht völlig über den Haufen schmeißen zu müssen, verbrachte ich die kommenden Stunden also abgesehen von einem einzigen Zwischenstopp trocknend im Auto… Und nun das. Strahlendblauer Himmel und Schönwetterwolken. Kaum zu glauben.     


Etwas mulmig ist mir aber zugegebenermaßen schon, als ich vorsichtig um die nächste Kurve biege und bete, möglichst keinem Gegenverkehr zu begegnen – immerhin fallen die steilen Klippen direkt neben der kurvenreichen Straße über hundert Meter in die Tiefe und nur eine kniehohe, kleine Mauer dient als „Sicherung“ vorm Sturz in die heute relativ ruhige See. Und vor mir auf der Fahrbahn? Ein weiteres Schaf mit blauer Markierung, dem es auszuweichen gilt und dem es verdammt nochmal sowas von egal ist, ob es nun mitten auf der Straße steht oder nicht. Irische Schafe sind diesbezüglich scheinbar schmerzbefreit. Als ich es umrundet habe und weit und breit kein Auto zu sehen ist, bleibe ich stehen und steige aus, um einen Blick nach unten zu riskieren und schüttle ehrfurchtsvoll den Kopf, als ich weitere Schafe beim Balancieren auf den Klippen beobachte. Dass ein falscher Schritt für ein jähes Ende des Schafslebens in den bei unbarmherzigerem Wetter gegen die Felsen peitschenden Wellen sorgen könnte, scheint sie völlig kalt zu lassen.

Als ich wieder einsteigen will, fällt mein Blick auf den Grund meines kleinen Umweges auf dem Wild Atlantic Way, wie sich die über 2600km lange irische Küstenstraße, die sich entlang der gesamten Westküste von Cork bis hinauf nach Derry schlängelt, nennt. Vor meinen Augen erstreckt sich der scheinbar unendliche, azurblaue Atlantik, der am Horizont beinahe nahtlos in den ebenso blauen Himmel übergeht. Davor erheben sich die bis zu 400 Meter hohen, grün bewachsenen Hügel einer Landspitze, dem Moytoge Head, auf dessen Spitze sich die dunkle Silhouette einer Ruine abzeichnet – eine alte, britische Wachstation aus dem Ersten Weltkrieg. Und unter der strahlenden Nachmittagssonne, von den Klippen eingesäumt und geschützt vor den stürmischen Winden des Atlantiks, liegt ein kleiner, abgelegener und beinahe menschenleerer Strand, der mich schlagartig mit seinem annähernd türkisblauen Wasser verzaubert. Keem Bay. Ein Paradies, mit dem ich in diesem Ausmaß hier nicht gerechnet habe.       
Mit offenem Mund und klopfendem Herzen steige ich wieder ein und folge der gewundenen Straße bis zu dem kleinen Parkplatz, auf dem sogar ein Händler mit einem kleinen Imbisswagen Position bezogen hat und unter anderem Wasser und Eis an die Hand voll Touristen verkauft, die ihren Weg heute bis hierher gefunden haben. Das Geschäft läuft an diesem Spätnachmittag wohl eher schlecht; im Sommer muss es hier jedoch deutlich voller sein, immerhin gilt Achill Island auch als Wassersportparadies für Taucher, Schnorchler, Kajakfahrer und Surfer.   Da mutet es fast schon ein wenig ironisch an, dass Acaill in den 50ern/60ern eine Hochburg des Haifischfangs war und es angeblich immer noch regelmäßig Haischulen an die Küste verschlägt…

Außer mir haben sich an diesem sonnigen Mittag aber nur wenige Menschen hierher verirrt, die das Wetter auskosten. Nur das Rauschen der Wellen ist zu hören; ein paar Möwen tanzen lautlos auf den warmen Aufwinden durch die Lüfte und segeln schwerelos um die Felswände. Staunend blicke ich über das entdeckte Kleinod und setze mich auf einen kleinen Felsen in die Sonne. Während ich die Augen schließe und die Wärme auf der Haut genieße, fühle ich mich, als flösse mir flüssiges Glück durch die Adern. Obwohl wir Ende September haben, ist es warm genug, um hier im Top die Seele baumeln zu lassen und mich meinen Tagträumen hinzugeben, während sich am anderen Ende des Strandes ein Familienvater mit zufrieden quietschendem Kleinkind sogar in das kühle Nass traut. Wenige Meter von mir entfernt sammelt ein Paar mit Hund Muscheln im feinen Sand. Und obwohl hier ausnahmsweise mal keine Palmen die Wegesränder säumen, wie das tatsächlich an manch anderer Stelle im Land der Fall ist, fühle ich mich, als säße ich am Mittelmeer.


Erneut bin ich von der Vielfalt der grünen Insel fasziniert. Städte wie Dublin, in denen das Leben pulsiert und in denen man sich, trotz der Größe, irgendwie unheimlich heimelig und zuhause fühlt; raue, bedrohlich wirkende Steilklippen, die sich vor schwarzen Gewitterwolken dem stürmischen Meer entgegen stellen; endlos weite Graslandschaften, die golden im Sonnenlicht liegen und deren grün-ockerfarbene Gräser sich sanft im Wind wiegen; dichte, mystisch anmutende Wälder, in denen Feen ihr Unwesen treiben; Seen, die still und in allen Facetten in der Sonne glitzern; Berge, die atemberaubende Ausblicke über das Land hinweg und auf das Meer hinaus bieten oder bei deren Überquerung man das Gefühl bekommt, geradewegs in den Himmel hinein zu fahren; abgelegene Wasserfälle und sogar ein Fjord, in den sich von Zeit zu Zeit auch Delfine oder Seehunde verirren… tja, und eben mal mehr, mal weniger einsame Strände wie die auf Achill Island. Eine faszinierende Landschaft, die mich in den kommenden Wochen immer und immer wieder bis in meine Träume verfolgt und mich nicht mehr loslässt. Ebenso wie die irische Bevölkerung.    
Wer auch immer mir auf meiner Reise begegnet – sie sind alle freundlich, hilfsbereit, warmherzig und offen. Haben einen genial trockenen Humor, versorgen mich mit Tee und ihren irischen Kochkünsten, mit Insidertipps und guten Ratschlägen, und behandeln mich, als wäre ich ein Familienmitglied. Wir debattieren über irische und deutsche Sprache, das Schulsystem, irische Musik, den Brexit und die Teilung Irlands, schütten uns das Herz aus, meckern über den Zustand irischer Landstraßen und die an schieren Wahnsinn grenzenden Geschwindigkeitsbegrenzungen auf einigen Abschnitten (absurde 80 oder gar 100 km/h auf einer viel zu engen, kurvenreichen Straße mit Gegenverkehr!) und lachen über kuriose Begegnungen. Einige bitten mich, mich zu melden, wenn ich sicher bei der nächsten Unterkunft angekommen bin, andere hoffen, mich bald wieder zu sehen oder bieten mir spontan an, mich bei Verwandten in der Gegend unterzubringen, wenn ich für die kommende Nacht noch ein Dach über dem Kopf brauche.   
All das lasse ich Revue passieren, während ich langsam den feinen Sand durch die Finger rieseln lasse und still in mich hinein lächele. Selten habe ich mich so frei, so losgelöst, so entspannt und ruhig und vor allem so willkommen und zuhause gefühlt wie in Irland. Und in der Tat – bisher ist mir kein Fleck auf dieser Erde begegnet, der mich so sehr entschleunigt wie Irland. Die Zeit verfliegt, wie ich da auf das Meer hinausblicke und viel zu spät breche ich im Sonnenuntergang auf, um nicht mitten in der Nacht bei meinem nächsten Host aufzuschlagen. Ein anderes Mal will ich mehr Zeit hier verbringen – zum Wandern, Fotografieren und Surfen lernen. Auf dem Rückweg entdecke ich hier und da Schilder mit roten Lettern in dem einen oder anderen Vorgarten: „For Sale“. Ich lächle. Ja, hier könnte ich bleiben…

 

Ganz losgelassen hat mich die Insel mittlerweile, über ein halbes Jahr später, übrigens immer noch nicht. Ich streife in meinen Träumen inzwischen zwar nicht mehr jede Nacht durch irische Graslandschaften – aber man erkennt es zumindest ganz gut daran, dass ich, wenn ich wieder einmal meinen Gedanken nachhänge, ganz im Sinne des irischen Straßenverkehrs immer noch links laufe...

 

Katja Schröter

 

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