Am 10. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diesen Tag nahm die Amnesty-Ortsgruppe Germersheim zum Anlass, um nach der Einhaltung der Menschenrechte in unserer unmittelbaren Umgebung zu fragen und veranstaltete am Dienstag, dem 10. Dezember, einen sehr gut besuchten Vortragsabend mit dem Titel Aus dem Leben eines Flüchtings.
Im Rampenlicht stand gleich zu Beginn der Ehrengast des Abends: Der somalische Flüchtling Hassan. Der gerade einmal 20-Jährige, mittlerweile in Landau lebende Asylbewerber fesselte die Zuhörer von Beginn an mit seiner Lebensgeschichte. Als 15-jähriger war er von der Al-Shabaab-Miliz entführt, erpresst und mit dem Tode bedroht worden. Sie hatten ihn gezwungen, sich ihnen anzuschließen und junge Soldaten auszubilden. Seine Mutter nahm alle ihre Ersparnisse zusammen und bezahlte einen Schlepper, der Hassans Flucht planen sollte. Diese führte ihn zunächst nach Russland, von wo aus er nach einem zweiwöchigen Aufenthalt gemeinsam mit neun weiteren Flüchtlingen in die Ukraine geschleust wurde. Dort angekommen, wurden sie von der örtlichen Polizei ausgeraubt und mitten im Winter im Wald ausgesetzt. Die Ukraine, die ursprünglich nur so schnell wie möglich auf dem Weg in die EU durchquert werden sollte, wurde zur vorläufigen Endstation. Vier Jahre lang wurde Hassan an der Weiterreise gehindert, drei Jahre davon verbrachte er in ukrainischen Gefängnissen. „They treated us like animals“, erinnert er sich an diese Zeit zurück. Er berichtet von unmenschlichen Haftbedingungen, von völlig überfüllten Zellen ohne Schlafvorrichtungen oder sonstige Ausstattung, von Gefängniswärtern, die ihn und seine Mitgefangenen mit Schlägen und Fußtritten schändeten. Um „die Wahrheit“ über seine Flucht zu erfahren, folterte ihn die Polizei mit Elektroschocks. Nach Haftzeiten zwischen neun und zwölf Monaten wurde er vorschriftsgemäß freigelassen. Die Polizisten setzten ihn aber an der EU-Grenze aus, wo er wiederum von den Grenzpolizisten aufgegriffen und erneut verhaftet wurde. Einmal gelang es Hassan, diesem Kreislauf zu entkommen: Er gelangte in die Slowakei, wo er jedoch erneut inhaftiert und an die Ukraine ausgeliefert wurde – ein illegaler Push-Back: Sobald Asylsuchende die Grenze zur Europäischen Union überschritten haben, dürfen sie nicht in Drittländer abgeschoben werden, wenn ihnen dort Verfolgung und Gewalt drohen. Vergangenes Frühjahr durchbrach Hassan diesen Teufelskreis endgültig. Über die Slowakei gelang ihm schließlich die Einreise nach Deutschland. Die Erstaufnahmestelle in Gießen wies ihm Rheinland-Pfalz als Wohnsitz zu. Seit sieben Monaten befindet er sich nun in Landau und wartet auf den Beginn seines Asylverfahrens. Dort gehe es ihm gut, so Hassan. Er hätte aber gerne mehr Kontakt zu Einheimischen und mehr Möglichkeiten Deutsch zu lernen. Arbeiten darf er bisher nicht. IT-Fachmann würde er gerne werden. Sein wichtigster Wunsch für die Zukunft: „I hope my future will be peaceful.“ Das wünschen wir ihm auch.
Hassans Geschichte macht deutlich: Hinter Flüchtlingen, die von uns Europäern oft nur als Masse wahrgenommen werden, steht jeweils eine individuelle Geschichte. Die allermeisten von ihnen tragen mit ihren Erfahrungen eine schwere Last und benötigen dringend Schutz. Dass sie diesen aber nur in seltenen Fällen erhalten, machte der anschließende Beitrag deutlich. Nach Hassans bewegender Erzählung skizzierte Reinhard Schott, der Integrationsbeauftragte der evangelischen Kirche der Pfalz, die Eckpfeiler der deutschen Flüchtlingspolitik. Seine wichtigste Botschaft: Für Flüchtlinge gelten in Deutschland Menschenrechte zweiter Klasse. Hintergrund ist die Absicht der Politik, eine Integration der Flüchtlinge bewusst zu verhindern, um Deutschland als Einwanderungsland so unattraktiv wie möglich darzustellen. So machen es komplizierte Vorrangsregelungen nahezu unmöglich, als AsylbewerberIn eine Arbeit zu finden. Selbst wenn man schon seit Jahrzehnten hier lebt und perfekt Deutsch spricht, muss der Arbeitgeber vorweisen, dass weder ein Deutscher, EU-Ausländer oder Drittlandangehöriger, noch deren Verwandte für diese Stelle infrage kommen. Zudem gilt für Flüchtlingskinder keine Schulpflicht, was zur Folge hat, dass sie an vielen Schulen nicht angenommen werden. Auch die Residenzpflicht, die es Flüchtlingen verbietet, sich außerhalb der Grenzen des ihnen zugewiesenen Bundeslandes frei zu bewegen, erschwert den Geflüchteten hierzulande das Leben. Gibt man sich die Mühe, alle Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufzuzählen, die allein durch diese drei Praktiken verletzt werden, kommt schon allerhand zusammen (siehe unten). Auch die europäische Flüchtlingspolitik ist Schott zufolge zutiefst unmenschlich. So werden Flüchtlingsboote im Mittelmeer kategorisch in afrikanische oder türkische Gewässer zurückgedrängt, ohne dass die Insassen einen Zugang zum europäischen Asylrecht erhalten. Zudem hat die absurde italienische Gesetzgebung zur Folge, dass italienischen Fischern, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten, hohe Strafen drohen.
Last but not least berichtete Sarah Müller, ehemalige FTSK-Studentin, über ihre Arbeit mit Flüchtlingen. In einem Praktikum in der Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in Mannheim erlebte sie, wie schockierend und frustrierend, gleichzeitig aber erfüllend die Sozialarbeit mit Flüchtlingen ist. Der Alltag im Asylbewerberwohnheim sei von Konflikten geprägt – kein Wunder, angesichts der engen Wohnsituation und Unterbeschäftigung vieler Einwohner. Hoffnung gebe aber besonders die Arbeit mit Flüchtlingskindern, die es oft schaffen, sich im Alltag von den Sorgen ihrer Eltern zu befreien.
Am Ende des Abends beeindruckte eine Zahl ganz besonders: Ganze 90 Zuhörer haben uns ihre Kontaktdaten hinterlegt, weil sie sich an weiterführenden Projekten zur Untersützung von Flüchtlingen in Germersheim und Umgebung beteiligen möchten. Am Vortragsabend sind zahlreiche Projektideen entstanden: Von Deutschunterricht über Sprachtandems bis isolation breaking und hangouts. Nun müssen sie nur noch in die Tat umgesetzt werden!
Text: C.R., E.M. und Ivanna Privitera
Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die durch die deutsche Flüchtlingspolitik verletzt werden:
Artikel 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Artikel 2
Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.
Artikel 3
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
Artikel 7
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.
Artikel 13
1. Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.
(…)
Artikel 23
1. Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.
(…)
Artikel 26
1. Jeder hat das Recht auf Bildung.
(…)
2. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.
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