Von kurzen Beinen und dicken Hintern

Selbstwahrnehmung ist ein Minenfeld. Heute Morgen habe ich absichtlich die kurzen Beine angezogen. Es mag sich so manchem nicht direkt erschließen, wieso, und auch der Zusammenhang zwischen den beiden Aussagen ist vielleicht vorerst obskur, aber eine sorgfältige Tagesplanung sollte nicht nur die Wahl des idealen Outfits beinhalten, sondern auch die des passenden Körpers.


Man könnte es als eine Art profanen Imperativ bezeichnen: Die kurzen Beine für wenn ich im Auto hinten sitzen muss. Den dicken Hintern habe ich für Tage reserviert, an denen ich lange im Büro sitze – wofür sonst hätte ich ihn mir zugelegt? Außerdem habe ich verschiedene Sets an Brüsten, denn wenn ich eine große mit einer kleinen kombiniere, dann ist immer noch Platz im BH für meinen Haustürschlüssel, wenn ich joggen gehe. Und von den unterschiedlichen Frisuren reden wir besser ein anderes Mal.

Vor ein paar Tagen traf ich am Baggersee eine Freundin, die sich darüber beschwerte, dass nach dem Sommer leider immer nur eins bleibt, nämlich der Bikiniabdruck. Für einen solchen Fall ist meiner Meinung nach mein Körperkonzept ideal. Solange niemand den Abdruck sieht, ist er da, sobald jemand ihn sehen könnte, schlüpfe ich einfach in eine andere Haut. Wie wir uns sehen, ist ja letztlich doch nur Ergebnis der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, das haben Peter Berger und Thomas Luckmann schon 1966 festgestellt. Sowieso ist unsere Wahrnehmung  Gesellschaftlich geprägt und das Wahrgenommene sollte niemals unkritisch genossen werden. Ebenso wie Mode, und das bringt mich wieder zurück zu meinem eigentlichen Thema.

Der Neuplatonismus betrachtet Materie als reine Potenz, eine Menge an Möglichkeiten, die nicht sind, im Unterschied zur Existenz, nämlich der geistigen Welt. So gesehen schöpfe ich nur meine platonischen Möglichkeiten voll aus, wenn ich einzelne Körperteile nach Bedarf anpasse. Wie andere Leute sie dann wahrnehmen, liegt vollkommen im Auge des Betrachters. Vielleicht erklärt das auch das gesunde Misstrauen, das ich oftmals der Kleiderwahl meiner Mitmenschen entgegenbringe.
Bei Nietzsche habe ich irgendwann mal die gänzlich antiplatonische Aussage gelesen, Philosophie müsste sich besser als Kunst des Misstrauens bezeichnen. Ich finde, das gleiche könnte man auch über das Leben sagen. Ich will damit nicht sagen, dass ich eine derart verabsolutierte und radikalisierte Einstellung unterstütze, aber hin und wieder frage ich mich doch, inwiefern die Verwirklichung der Materie einem Individuum überlassen sein sollte, das sich dann möglicherweise dazu entscheidet, Leggings anstelle von Hosen zu tragen, natürlich nur mit einem kurzen Top, sodass man genau die Nähte der Feinrippunterwäsche sehen kann, die sich in die Orangenhaut beißen. Und wenn es eine Grundregel im Minenfeld gibt, der sicherlich sowohl Nietzsche als auch Plato zugestimmt hätten, dann ist es doch diese: Leggings sind keine Hosen!

 

Sarah Rust

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