Namaste, India!

Als ich letztes Jahr im Dezember zum ersten Mal etwas über die Studentenorganisation AIESEC las, dachte ich sofort, dass diese eine gute Möglichkeit für mich sei, um ein fremdes Land mit einer anderen Kultur kennenzulernen. Obwohl die Auswahl der Praktika überall auf der Welt wirklich riesig ist, war ich mir sofort sicher, auf welches Land meine Wahl fallen würde.


“A new experience can be extremely pleasurable, or extremely irritating, or somewhere in between, and you never know until you try it out.”


Indien – ein unbeschreiblich vielfältiges Land voller Kontraste, mit einer Kultur, die nicht vergleichbar mit unserer eigenen ist, und gleichzeitig ein Land, das ich schon immer erleben wollte. Die Praktikumssuche konnte also beginnen. Nachdem ich mir einen Überblick über mögliche Praktikumsplätze in Indien verschafft hatte - und die Auswahl war nicht gerade klein – konnte ich die ersten Bewerbungen verschicken. Mein Favorit war auf Anhieb das Projekt Vikas Jyot Trust in der 1,7 Millionen-Einwohner-Stadt Vadodara. Ich hätte nie im Leben damit gerechnet, innerhalb von nur zwei Stunden vom anderen Ende der Welt Antwort auf meine Bewerbung zu erhalten. Ich war unglaublich aufgeregt und zwei Wochen später, nach einem nervenaufreibenden Interview über Skype, war ich „gematched“ und die Vorbereitungen konnten und mussten beginnen, denn ich hatte nur noch einen Monat Zeit, um sowohl einen Reisepass, mein Visum und meine Auslandskrankenversicherung zu beantragen als auch meine Impfungen zu bestellen und den Flug zu buchen. Alles lief zuerst problemlos, doch dann kam der Kampf mit dem Visum – ein unglaublicher Papierkrieg. Obwohl ich mich vorher genauestens über alle Dokumente informiert hatte, die ich brauchte, um das Visum zu beantragen, fehlten mir Papiere wie beispielsweise die Bescheinigung von meiner Uni, die besagte, dass ich das Praktikum in der vorlesungsfreien Zeit absolvierte sowie ein Vermögensnachweis. Nach langem Hin und Her und vielem Zittern, kam mein Visum kurz vor knapp doch noch an. Mein Buddy hat mich während der langen Warterei, während der ich schon fast dachte, dass ich doch nicht nach Indien komme, mit seinem Optimismus, der die indische Mentalität unter anderem auch auszeichnet, überschüttet und sein Motto „Think positive and positive will happen!“ war mein ständiger Begleiter während meiner Vorbereitungen.

Und dann war es auf einmal so weit. Mit meinem überfüllten Koffer voller Taschentücher, Desinfektionsspray und Medikamenten stand ich in Frankfurt am Flughafen. Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so aufgeregt und nervös. „Bye bye, cold Germany.“ Von Frankfurt ging es nach Dubai, von Dubai nach Mumbai und von Mumbai nach Vadodara. Was mir im Reisebüro allerdings nicht gesagt wurde, war, dass ich in Mumbai den Flughafen vom Internationalen zum Inlandsflughafen wechseln musste. Leider blieben mir nur 45 Minuten, um durch die Passkontrolle zu gehen, mein Gepäck abzuholen, den Flughafen mit dem Shuttlebus zu wechseln und wieder einzuchecken. Doch eine nette Inderin, die ich in Dubai am Flughafen kennengelernt hatte, half mir sehr und brachte mich schnell durch die Passkontrolle. Doch natürlich läuft nicht alles so, wie man es plant, und besonders dann nicht, wenn man sich beeilen muss. Nachdem mein Gepäck in Mumbai kontrolliert wurde und ich mein Geld gewechselt hatte (1 Euro = 72 Rupien), wurde mir zu allem Übel mein Koffer geklaut. Was für ein Start! Mit den Worten „You are German, you are wealthy.“ sah mich ein fremder Mann provokant an und wollte mir meinen Koffer nur gegen Geld zurückgeben. Ich war völlig überfordert mit der Situation und wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Abgesehen davon blieb mir nicht mehr viel Zeit, um meinen Anschlussflug zu erwischen. Zum Glück wurde nach gefühlten zwei Stunden ein anderer Mann auf uns aufmerksam, der mir zu Hilfe eilte und mir im Shuttlebus seine Emailadresse gab, weil er doch sehr besorgt um mich war und wissen wollte, ob ich auch gut in Vadodara ankomme. Meinen Flug habe ich sogar in letzter Sekunde noch erwischt.

Nach etwas weniger als einem Tag war ich auf einmal in einer anderen Welt. „Namaste, India!“ Vom Flughafen aus ging es dann direkt mit der Rickshaw ins indische Verkehrschaos – hunderte Motorräder, Rickshaws, Kühe, Kamele und Menschen überall. Von Müdigkeit keine Spur mehr. Jeder fährt, wie er möchte. Das Wichtigste ist, dass man sich durch Hupen bemerkbar macht. Auf vielen Fahrzeugen steht sogar: „Please Horn!“. Weil ich um sieben Uhr morgens angekommen war und das AIESEC-Büro um diese Zeit noch nicht geöffnet ist, gingen wir erst mal zu einem „Chaiplace“ – ein kleiner Stand, an dem man für nur 6 Rupien einen Chai oder Kaffee trinken kann. Dort habe ich also meinen ersten indischen Chai getrunken, direkt am Dschungel, umgeben von Streifenhörnchen. Der Februar ist in Indien auch noch ein Wintermonat und morgens ist es „nur“ 20°C warm, sodass die Inder sich in ihre Jacken einmummelten und an ihren Chai wärmten. Danach stand mir die nächste Rickshaw-Fahrt zu meiner Gastfamilie bevor. Dort wurde ich unbeschreiblich herzlich empfangen und eine Woche lang mit leckerem indischen Essen verwöhnt. Die vielen verschiedenen Eindrücke waren einfach überwältigend und nach wenigen Tagen hatte ich mich schon an das Leben in dem außergewöhnlichsten Land, das ich je gesehen habe, gewöhnt. Die AIESECer vor Ort haben den anderen Praktikanten und mir in jeder Situation geholfen, auch wenn es beispielsweise nur darum ging, wie wir mit der Rickshaw von A nach B kommen.

Ich war allerdings nicht nur von dem Land, den Leuten und den Bräuchen begeistert, sondern auch von meinem Praktikum. Schon nach wenigen Tagen hatten sich die Kinder, die in ihrer Freizeit zu dem Zentrum kamen, in dem ich arbeitete, an mich gewöhnt. Die meisten der Kinder aus den umliegenden Slums verkauften am Bahnhof oder in den Zügen Wasser, um ein bisschen Geld für ihre Familien zu verdienen. In dem kleinen Raum, der zum Glück direkt neben dem Bahnhof in Vadodara liegt, gab es nicht einmal genug Stühle für die Kinder, sodass ich mich mit ihnen auf den Boden setzte, um ihnen ein bisschen Mathematik und Englisch beizubringen. Die Kinder warfen mich fast mit ihren Heften ab, weil ihnen die Möglichkeit etwas zu lernen so wichtig war. Es hat mir richtig Spaß gemacht zu sehen, wie motiviert sie eine Aufgabe nach der anderen lösten und nicht genug kriegen konnten. Ich habe drei Wochen lang von 12 bis 16 Uhr bei der NGO (Non-Governmental Organization) gearbeitet und es war so schön, die Kinder auch nur mit kleinen Sachen glücklich zu machen und zum Lachen zu bringen. Natürlich blieb zwischendurch auch ein bisschen Zeit zum Spielen und Papierflieger basteln. Es lag auch immer ein großer Sack Curryreis bereit, aus dem die Kinder sich auf einem Stück Zeitung so viel Essen nehmen konnten, wie sie wollten. Er wurde natürlich mit den Fingern gegessen! Nach ein bisschen Übung schaffte ich es auch, mit den Fingern zu essen und nicht mehr alles auf dem Tisch zu verteilen - ein ganz anderes Essgefühl. Die anderen Praktikanten aus den Niederlanden, Brasilien und Deutschland begleiteten mich auch einen Tag zu meiner NGO, um zusammen mit mir Präsentationen über unsere Heimat zu halten, denen die Kinder ganz gespannt zuhörten. Das Praktikum hat mir wirklich das Gefühl gegeben, etwas Wichtiges für die Kinder zu tun und ihr Leben vielleicht ein bisschen fröhlicher zu machen.

Die AIESECer in Vadodara waren sehr flexibel und so konnte ich, auch wenn mir meine Arbeit viel Freude bereitete, auch noch an dem Projekt der anderen Praktikanten teilnehmen. Wir haben unter anderem viele verschiedene NGOs besucht, die sich für die verschiedensten Menschen in Vadodara einsetzen. Unter anderem hatten wir auch die Chance zu sehen, wie die Umsetzung von Mikrokrediten in Indien abläuft, was wirklich sehr interessant war. An unserem letzten Projekttag haben wir einer Familie in einem Slum geholfen ihren Stand mit chinesischem Essen vorzubereiten und abends zu verkaufen. Die Zusammenarbeit mit den Menschen hat sehr viel Spaß gemacht und die Dankbarkeit, die man von ihnen vermittelt bekommt, ist einfach unglaublich.

Auch wenn oder gerade weil nicht immer alles problemlos abgelaufen ist und wir mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, sind wir Praktikanten in den sechs einzigartigen Wochen, die wir miteinander verbringen durften, wie eine kleine Familie zusammengewachsen. Nachdem ich in meiner zweiten Woche mit den anderen Praktikanten jeden Tag umziehen musste, weil noch keine Unterkunft für uns gefunden war, konnten wir in der dritten Woche endlich unser neues Zuhause beziehen, das bis auf ein paar Matratzen komplett leer war – aber man gewöhnt sich an alles und Licht im Bad wird auch überbewertet. Natürlich hatten wir auch genügend Freizeit, um den Palast Old Baroda und viele Basare zu besuchen. Auch den Feiertag Shivaratri zu Ehren des Gottes Shiva konnten wir mitfeiern. Obwohl es in dem Staat Gujarat weder erlaubt ist Alkohol zu trinken noch Drogen zu nehmen, war es an diesem einen Tag erlaubt, ein Opiumgetränk zu trinken – Incredible India! Für uns gab es fast kein Durchkommen durch die Menschenmassen, jeder wollte ein Foto mit uns machen und am nächsten Tag konnten wir unser Foto sogar in der Gujarati-Zeitung finden. Auch das Farbenfest Holi durften wir miterleben und es war einmalig. Morgens wurde unsere Wohnung schon von unseren Nachbarn gestürmt und dann ging das Spektakel los. Die ganze Stadt war bunt und alle Menschen feierten zusammen. Natürlich bewaffneten wir uns auch mit Farben, Wasserpistolen und Eiern und feierten den ganzen Tag. Auch wenn sich die Farbe nach einer 45-minütigen Dusche immer noch nicht aus den Haaren herauswaschen ließ und ich mit blauen, grünen, orangen, pinken und roten Haaren zurück nach Deutschland fliegen musste – es hat sich einfach gelohnt und für nichts in der Welt hätte ich dieses Erlebnis missen wollen.

In meiner letzten Woche hatte ich noch Zeit, um zusammen mit zwei anderen Praktikanten ein bisschen zu reisen. Wir konnten das Leben im wahrsten Sinne des Wortes in „vollen Zügen genießen“. Denn eine Zugfahrt in Indien ist wirklich nicht ohne. Es gibt kein Durchkommen, überall sind Menschen und man fühlt sich wie Sardinen in einer Sardinenbüchse. Nach 13 Stunden erreichten wir endlich unsere erste Station – Agrar. Wir konnten es gar nicht erwarten, das Taj Mahal zu sehen. Das Taj Mahal ist ohne Zweifel das schönste Gebäude, das ich je gesehen habe und gleichzeitig der einzige Ort, an dem ich einen Kulturschock hatte. In meiner ganzen Praktikumszeit habe ich keine Touristen gesehen und wir haben uns selbst bei 38 °C der indischen Kultur angepasst und lange Kleidung getragen, um nicht noch mehr aufzufallen. Am Taj Mahal waren wir allerdings von leicht bekleideten Touristen umgeben, die keine Rücksicht auf die indische Kultur nahmen. Von Agrar aus ging es dann weiter nach Jodhpur - der blauen Stadt. Von der auf einem Berg gelegenen Festung aus hatten wir eine tolle Aussicht auf die blau gestrichenen Häuser, die das Stadtbild ausmachen. Da unser Zeitplan jedoch sehr eng war, fuhren wir abends schon weiter nach Jaisalmer, um dort eine Kameltour in die Wüste zu machen. Auch wenn unsere Kamele einfach nicht auf uns hören wollten und immer in den nächsten Busch liefen, um sich zu kratzen, war es richtig lustig - eine gerissene Hose, die die zweitägige Tour nicht überlebte, Kamele, die einfach anfingen zu galoppieren oder sich einfach hinlegten, wenn sie gerade keine Lust mehr hatten, Kamelführer, die uns mit ihrer guten Laune immer auf Trab hielten und AIESEC-Tänze mitten in der Wüste. Die Reise mit all ihren Strapazen und Übernachtungen am Bahnhof hat sich einfach gelohnt – ein tolles Erlebnis.

Leider gingen die sechs Wochen in Indien viel zu schnell vorbei und der Abschied war nicht gerade leicht. Die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen, die vielfältige Kultur und das facettenreiche Land fehlen mir jeden Tag. Indien ist ein Land, das man unbedingt erleben muss, um es zu verstehen, und wenn ich eines gelernt habe, dann ist es, geduldig zu sein und auch mit schwierigen, unerwarteten Situationen umzugehen, denn das Leben hält so viele Überraschungen bereit. Obwohl ich noch nie zuvor so weit von zu Hause entfernt war, habe ich mich zu keinem Zeitpunkt alleine gefühlt. Die AIESECer aus Vadodara haben sich von Anfang an um uns gekümmert und hatten immer ein offenes Ohr. Meine Erwartungen wurden auf jeden Fall übertroffen und ich kann jedem empfehlen, diese Erfahrung zu machen. Ich glaube, dass mich so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen kann und dass ich am letzten Tag mit meinem Koffer auf dem Motorrad zum Flughafen gebracht wurde, hat mich dann auch nicht mehr gewundert. Was ich mit Gewissheit sagen kann, ist, dass ich nicht zum letzten Mal in Indien und Vadodara war. Dass ich meine Reise nach Indien mit der Studentenorganisation AIESEC geplant habe, war für mich die richtige Entscheidung, da ich so die Chance hatte, die Kultur unverfälscht und so nah wie möglich kennenzulernen und einen guten Einblick in die Hilfe für diejenigen zu bekommen, denen es viel schlechter geht als uns hier in Deutschland. Meine Sicht auf viele Dinge hat sich seitdem verändert und ich habe auch gelernt, unser Leben hier mehr zu schätzen. Die Erfahrung in Vadodara hat mich sehr nachdenklich gestimmt und mir gezeigt, dass ich mich auch in Zukunft weiterhin für diejenigen einsetzen möchte, die nicht die gleiche Perspektive im Leben haben wie ich.

Text und Fotos von Johanna Nelles

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